ANATOMY OF A FAIRY TALE
Die geheimnisvolle Welt der Märchen ist unsere Kinderstube. Über Jahrhunderte, manchmal Jahrtausende, sind sie zu uns gelangt, haben Gebirge, Flüsse und Kontinente überquert. Sie sind aus Mythen entstanden oder aus Legenden, wurden in ihrer mündlichen Überlieferung verwandelt, von einem Kulturkreis in den anderen weitergegeben oder verweisen auf universell in der Menschheit verwurzelte Themen.
Unsere heutige Rezeption und Selektion von Märchen ist dem Buchdruck zu verdanken, den Gebrüdern Grimm und anderen, die Volksgut gesammelt und ihm eine neue Bewandtnis haben zukommen lassen. Zumindest aus dem städtischen Raum wurde das mündliche Erzählen verdrängt, die Märchensammlungen wurden zu einem zentralen Element der Kindererziehung im Bildungsbürgertum. Sie sollen moralische und pädagogische Werte vermitteln, sind jedoch gleichzeitig in einer archaischen Welt verankert, die eine Kinderseele bis zur Verstörung aufzuwühlen vermag. Rätselhafte Gesetze herrschen in ihnen, sprechen zu uns aus einer fernen Zeit, übermitteln verschlüsselte Botschaften. Märchen sind keine harmlosen Geschichten, sie sind ein Schlüssel zu den Tiefen des menschlichen Bewusstseins, und so fand auch die Psychoanalyse in ihnen reiches Material auf ihrer Erkenntnissuche. Das Spannungsverhältnis zwischen Realität und Phantastischem, wie es im Märchen herrscht, ist aus dem modernen Alltag weitgehend verbannt, unserem Wesen aber inhärent, weshalb uns auch heute Märchen nicht gleichgültig lassen und nach wie vor viel über uns erzählen, über unsere Geschichte, unsere Ursprünge und unsere Triebfedern.
Dreißig zeitgenössische KünstlerInnen haben sich auf die Spur der Legenden begeben, haben sich durch verhangene Märchenwälder geschlängelt, mit Hilfe von Malerei, Fotografie, Skulpturen, Computergrafik und Installationen ihre eigenen Mythen geschaffen, um zu entschlüsseln, welche Wirklichkeit sich auftut, wenn die Worte verstummen.
In ihren Werken finden sich rätselhafte Symbole, traumartige Sequenzen, an Tierfabeln erinnernde Metamorphosen, bizarre Formen unterschwelliger Grausamkeit. Albtraumhaft verschlungene Skulpturen evozieren die furchteinflößende Gelähmtheit, die Märchenhelden – und wir mit ihnen – überwinden müssen. In entrückt geheimnisvollen Räumen herrschen verwirrende Zeichen, skurrile Gestalten tauchen auf, werden zum Spiegel von Ängsten und Begierden. Der Betrachter findet sich in Welten wieder, deren seltsame Logik ihm durch seine eigene Rezeption von Sagen und Geschichten vage vertraut ist, deren Gesetze jedoch gleichzeitig entblößt und außer Kraft gesetzt werden. Er muss selbst eine neue Bedeutung für das Ungesagte finden, den Brotkrumen folgen, die ihm der Künstler ausgestreut hat, um dabei vielleicht zum ersten Mal die Einzigartigkeit des Waldes zu sehen, der ihn umgibt, und nicht den entschwundenen Weg. In einer solchen Betrachtung vermag womöglich das Sakrale wiederauferstehen, das aus Märchen und Mythen zu uns spricht, die Essenz des menschlichen Geistes und das Bedürfnis, ihm auf den Grund zu gehen, über die Zeiten hinweg Ausdruck zu verleihen.
von Angelica Ammar